Als ich vegan wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen gegen dieses Übermensch-Argument gewehrt. Dass alle veganen Menschen sich für etwas Besseres halten. Weil sie die Lebensweise gefunden haben, die den wenigsten Schaden anrichtet, Tiere als lebenswerte Lebewesen respektiert, absolut umweltschonend ist und sie "den Leuten in Afrika" nicht das Getreide wegnehmen. Zum Glück ist mir diese Einstellung persönlich eher selten begegnet. Die veganen Menschen, die ich bis jetzt kennenlernte und die meisten, die zur – ich nenns jetzt mal – Blogging Community gehören, sind da etwas bescheidener. In letzter Zeit sind mir dann aber Leute "begegnet"... da weiß ich, was gemeint ist, wenn unvegane Menschen genervt von vegan lebenden Menschen sind.
Irgendwie scheint sich die Einstellung breit zu machen, dass es alle Probleme der Welt lösen würde, wenn alle Menschen vegan leben würden. Ich werf jetzt mal was total und absolut Oberkrasses in den Raum: Das ist Bullshit! Was mich wütend macht, ist diese Einstellung, diese Überzeugung davon, total kritisch zu sein und dann nicht mal etwas weiter denken zu können als "an die armen Tiere". Hier mal ein paar "Argumente" und Herangehensweisen, die ich unter Veganer_innen sehr problematisch finde.
Hauptsache vegan, ansonsten ist alles egal!
Als der Linksunten-Artikel über Kim Wonderland online ging, hat es beschissene Reaktionen und "Argumente" aus allen möglichen Perspektiven gegeben. Was mich richtig abgefuckt hat, waren all die "Hauptsache vegan, der Rest ist doch egal!" - Kommentare. Oder auch "Seid wann ist es verboten, mit Nazis befreundet zu sein, sind doch auch nur Menschen?!" Oder weiter "Das ist doch ihre Privatsache, das geht uns gar nichts an!" Ich meine, hackts?! Geht's noch unkritischer? Noch ätzender? Noch rechtsoffener? Komplett unabhängig davon, ob was dran ist oder nicht, was geht denn in den Köpfen von Leuten vor, die so eine Scheiße von sich geben? Natürlich ist es NICHT okay! Mit Menschen, die einer menschenverachtenden Ideologie angehören, ist man "nicht einfach nur so" befreundet. Es ist auch nicht alles egal, so lange man vegan lebt. Veganismus ist ein winzigkleiner Teil vom Großen Ganzen. Wie kann Veganismus irgendwas erreichen, wenn mit Nazis abgehangen wird? Dadurch wird die Welt nicht besser. Sie wird dadurch schlechter.
Wie können Menschen sagen, dass sie "sogar auch" an die Tiere denken, nicht nur wie viele Menchen, die nur an Menschen denken, weil sie vielleicht sie anfaschistisch oder was auch immer sind. Ganz ehrlich, in der veganen "Szene" gibt es ziemlich wenig Leute, die sich neben Veganismus auch noch mit anderen Dingen beschäftigen. Es muss natürlich nicht jede_r alles wissen/machen/lesen, aber man kann ja wohl erwarten, dass man sich dann zumindets zurückhält, wenn man sich (noch) nicht mit dem entsprechenden Thema auseinandergesetzt hat. Wir sagen alle, wir sind gegen Diskriminierung jeglicher Art, aber wenn ein rassistischer/sexistischer/homophober Witz gemacht wird, heißt es ganz schnell "das ist aber nicht so gemeint" oder "ich finde ja nicht, dass das diskriminierend ist." Meine Reaktion darauf ist ungefähr die selbe, als wenn sich irgendein Heini als Alleswisser_in aufspielt und darüber referiert wie sehr er_sie Tiere liebhat, während er_sie in sein_ihr Steak beißt. Es ist ein Widerspruch.
Unsere Gesellschaft ist von diskriminierenden Strukturen durchzogen. Diese zu verstehen, ist nicht immer leicht und manchmal will man sie auch nicht wahrhaben. Frag doch mal das Tier, das gegessen wird – Frag doch mal den Menschen, der diskriminiert wird. Klingelt da was? Wir sollte nicht so tun, als gäbe es sonst keine Probleme auf der Welt. Und vor allem sollten wir aus den Fehlern derjenigen lernen, die reden, ohne Ahnung vom Thema zu haben. Immerhin wissen doch die meisten wie das ist und es nervt uns alle ungemein.
Ich bin viel veganer als du und du machst XYZ, das ist voll unvegan!
Ich beobachte, dass Veganer_innen quasi unter Selbstgeißelung Veggie-Monopoly spielen und jede_r so schnell und direkt wie möglich ins Ziel kommen möchte. Da gibt es teilweise Wettstreits sondergleichen und wer auf der Strecke bleibt, der_die war nur nicht stark genug. Vegan sein bedeutet per Definition alle Produkte abzulehnen, für die Tiere leiden mussten. Menschen sind auch nur Tiere, also müssten alle Veganer_innen auch komplett Fair Trade leben. Und am besten auch regional, saisonal und bio. Weil dadurch dem Planeten und somit auch Menschen und anderen Tieren am wenigsten angetan wird. Aber mal ehrlich – bis wohin geht das Spiel? Kann da überhaupt jemand gewinnen? Im veganen Monopoly wurde ich mit Sicherheit schon sehr oft zurück auf Start geschickt, wenn ich nicht schon längst im Gefängnis gelandet bin. Bin ich dafür selbst verantwortlich? Ja, zum Teil. Zum Teil aber auch nicht.
Ich weiß nicht, wie häufig schon der Satz "Wir leben alle in einer unveganen Welt" heruntergebetet wurde. Aber er stimmt. Veganismus ist kein allheilbringendes Lebensprizip, welches ich konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste verfolge. Es ist auch nicht möglich. Wie häufg wurde schon ausdiskutiert, was man dann alles nicht mehr machen dürfte. Straßenbahnfahren, Autofahren, ins Kino gehen, keine Ausnahme für die Oma vom Freund machen, wenn die sich Mühe mit einer Alternative gemacht hat, aber trotzdem etwas Butter zu den Kartoffeln gegeben hat, die Handcreme der Freundin nicht benutzen, obwohl die Haut rissig und trocken ist und so weiter.
Hinzukommt, dass Fair Trade Klamotten verdammt noch mal beschissen teuer sind. Unabhäging davon, dass sie gerechtfertigterweise teuer sind und einen realistischen "fairen" Preis haben, ist einfach zu sagen "Kauf halt einen statt zwei" blanker Hohn in den Ohren derjeniger, die kaum Kohle haben um zu überleben. Es ist auch blanker Hohn in de Ohren derjenigen, die sich nicht nur am superveganen Maß messen (wollen), sondern sich auch an anderen Erwartungen und Maßen messen, wie zum Beispiel Schönheitsidealen.
Second Hand, Kleiderkreisel und ebay, das ist alles toll und sinnvoll, aber auch das kostet zeitliche Ressourcen, die nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich in meiner Superkorrektheit vielleicht Menschen günstige Kleidung wegschnappe, die sie wirklich benötigen. Das ist ein Gedanke, der mir zutiefst widerstrebt.
Das alles als "die strengen sich nur nicht genug an" darzustellen, ignoriert tatsächliche Verhältnisse und Lebensrealitäten und führt dazu, dass Veganismus nur der kleinen, arroganten Bildungselite offen steht, die sich anmaßt, über alles und jede_n zu urteilen.
Vegan leben, weil woanders Menschen an Hunger sterben
Was mich fast am meisten ankotzt ist diese ewige Analogie, man würde "Menschen in Afrika" das Getreide wegnehmen und wenn wir alle vegan werden würden, dann müsste niemand mehr hungern. Schon klar, es gibt die Fälle, in denen Ländern Getreide abgekauft wurde, obwohl Dürren bevorstanden. Aber es ist nicht ganz so einfach. Viele haben sicherlich den Film "We feed the World" gesehen. Dort sagt Jean Ziegler (selbst Vegetarier, so weit ich weiß aus humanistischen Gründen, übrigens hat er sehr lesenwerte Bücher über Armut und Hunger geschrieben) etwas entscheidendes: "Der World Food Report besagt, dass die Weltlandwirtschaft, so wie sie heute ist, ohne Probleme 12 Milliarden Menschen ernähren könnte."(klick) Zur Zeit leben laut Wikipedia etwa 7,01 Miliarden Menschen auf der Erde. (klick) Wir haben kein Mengenproblem. Wir haben ein Verteilungsproblem. Es werden Staaten, Menschen ausgebeutet. Es gibt genug Essen für jeden Menschen auf dieser Welt. Sogar für viel mehr Menschen auf der Welt. Das ist eines der Erben der Kolonialgeschichte. Mit Bildern wie "wir müssen den Armen helfen" werden wieder rassistische Strukturen reproduziert. "Wir" müssten eigentlich überhaupt nicht helfen. Wir müssten mit der Ausbeutung aufhören, Reparationen zahlen und Verantwortung übernehmen.
Natürlich, die Landwirtschaft ist am Arsch. Regenwälder werden zerstört, meist für Tierfutter, aufgekauftes Getreide ist meist Tierfutter, Mais in den Staaten ist meist Tierfutter. Die Meere sind bald leer gefischt, der Planet ist voller Müll, die Böden voller Gifte. Um genug Lebensmittel und andereüberlebensnotwendige aber aucn unwichtige Dinge für 12 Milliarden Menschen zu erwirtschaften musste bereits einiges massiv zerstört werden. Nichts desto trotz. Wenn alle Menschen in Europa, den Staaten und so weiter vegan werden würden, wäre imperiale und kolonialgeschichtlich verankerte Ausbeutung nicht zu Ende. Kolonial- und Kapitalismuskritik sind entscheidende Ansätze, um diese Strukturen zu erklären. Beides ist auch durchaus miteinander verwoben und besonders im Zusammenhang mit dem veganen Welthungrrettungsargument ein eigens Posting wert. Heute bleibe ich aber mal bei einfachen Sätzen: Reichtum braucht Armut. Wer reich sein will, muss andere unten halten. Stichworte wären zum Beispiel: Regierungen, (Groß)Konzerne, Lobbys. Ihre Werkzeuge sind unter anderem Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfond. Die Güter aus armen Ländern sollen wettbewerbsfähig auf den Weltmarkt geworfen werden, IWF und Weltbank verteilen dazu ganz großmütig und absolut selbstlos Kredite zu horrenden und repressiven (finanziellen) Bedingungen. Länder wie Brasilien, welches einst den höchsten, jemals gewährten Kredit bekommen hat, zahlen sich dumm und dämlich, nur um die Zinsen solcher Kredite zu tilgen. Da bleibt wenig bis nichts mehr übrig für den Ausbau der Infrastruktur, Bildung für alle, Investitionen in einen Sozialstaat oder Reformen für die Landwirtschaft. Diese Kredite dienen hauptsächlich dazu, die Vormachtstellung eh schon reicher Länder beizubehalten und führen eh schon arme Länder in die ewige Abhängigkeit.
Ganz kurz, falls es eine vergessen hat: Wer vegan lebt wird dünn, gesund und schön!
Diese Attribute da oben scheinen ja irgendwie synonym benutzt zu werden, was mich schon sehr ärgert. Im Fatshaming-Artikel habe ich ja bereits auf die Vielfalt menschlicher Körper hingewiesen. Außerdem bitte ich euch alle, schaut euch doch mal um. Die Veganer_innen, die ich kenne, sehen genau so aus, wie die unveganen Menschen, die ich kenne. Es gibt dicke und dünne, große und kleine, blasse und gebräunte, welche mit Cellulite und ohne, mit Pinkeln und ohne, mit seidenglänzendem Haar und mit trockener Strubbelmähne, gesunde und kranke. Das könnte ich eeeeewig so weiterführen. Und alles davon ist okay! Die vegane Community ist unterliegt denselben Schönheitsidealen, wie der Rest der Gesellschaft. Sich davon zu befreien, das wäre mir echt viel wert.
Weg von der individualistischen Perspektive, hin zu mehr allgemeiner und emanzipatorischer Herrschaftskritik!
Zu Beginn habe ich es mir wirklich sehr schwer gemacht. Ich dachte, Veganismus sei ein Boykott, und ich könne so die Nachfrage regulieren (natürlich nicht alleine, sondern in der Masse). Heute muss ich ein bisschen darüber schmunzeln. Es ist viel größer. Die Nachfrage alleine regelt nicht das Angebot und Veganismus alleine rettet nicht die Welt. Menschen beuten Natur, Tiere und andere Menschen aus. Das hat System und sehr tiefe historische Wurzeln, die sämtliche globalen und wirtschaftlichen Beziehungen durchflechten. Diese Wurzeln lassen sich nicht durch eine andere, nettere Konsumform ausreißen. Damit kann man man nicht mal die Schäden beheben, die dadurch der Oberfläche entstehen.
Ich habe versucht in allem korrekt zu sein. Mehr Fair Trade kaufen, nur bio Gemüse und so weiter. Gerade ändern sich etwas meine (finanziellen) Lebensumstände und mit Blick in meine Zukunft muss ich sagen, diese Einstellung ist sehr arrogant. Wer kann das denn bitteschön? Wenn ich von allen Menschen erwarte möglichst nah an die 100 % Perfektion zu kommen, machen wir uns allen nur selbst das Leben schwer. Und wir erreichen gar nichts. Wir erreichen auch nicht die Menschen, die von den Strukturen so vernachlässigt und unterdrückt sind, dass sie weder zeitliche noch finanzielle Ressourcen haben, um in diesem Spiel die Turmstraße kaufen zu können, gechweige denn die Schlossallee.
Ich will eine politische Bewegung. Eine, die zwar selbstkritisch ist, aber versteht, dass nicht Einzelpersonen die Gestalt der Welt mit Konsumentscheidungen verändern können. Es ist toll, wenn Menschen Verantwortung übernehmen, in ihrem Leben für irgendwas einstehen oder zurücktreten. Und ich wünsche mir auch, dass das alle Menschen tun würden, die es können. Das löst aber diese Probleme nicht. Es ist eine beschissene Unverschämtheit und eine verdammte Ungerechtigkeit, dass es solche ausbeuterischen Strukturen gibt. Dass wir in Verhältnissen leben, die es so schwer macht, gute Entscheidungen zu treffen. Ich will, dass diese Entscheidungen für alle Menschen zugänglich gemacht werden, nein, ich will, dass ich mich überhaupt gar nicht erst zwischen "gut" und "schlecht" entscheiden muss. Dieser unkritische, selbstreferenzielle Wohlfühlveganismus ist so ein Lifestyle für Superpriviligierte, die sich gegenseitig für ihre kleinen ökologischen Fußabdrücke auf die Schulter klopfen. Da hab ich keinen Bock drauf und da mach ich auch nicht mit.
EDIT am 12.12.2012: Ich möchte euch zum Weiterlesen diesen Blogeintrag von zapperlott ans Herz legen. Auszug:
Was übrig bleibt ist die rein private Suche nach dem moralisch
korrektem Konsum, um das Gewissen zu beruhigen. Bereits das ist eine
folgenreiche Verblendung, die in der Konsequenz zu der besagten »veganen
Weltrettungskackscheiße« führt.